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DIE FORM-FALLE
Vom schönen Schein: Warum in den Kampfkünsten manchmal
Äusserlichkeiten mit Inhalten verwechselt werden und was sich
dagegen tun liesse
In der gegenwärtigen Gesellschaft boomt der Hang zur Äusserlichkeit und auch in
Wirtschaft, Kunst und Religion ist Vordergründiges Trumpf. Karate ist deshalb kaum weniger
widersprüchlich als alles, was sonst in der Welt geschieht. Damit ist auch gesagt, dass es
hier nicht um eine wissenschaftliche Untersuchung geht, sondern lediglich um das
Nachdenken über Werte und Zielsetzungen der Kampfkunst unter Berücksichtigung des
aktuellen gesellschaftspolitischen Kontextes.
Dieser Kontext ist stark von materiellen Werten bestimmt. Bekannte Bespiele sind die uns
allen bekannten Schemata sozialer Einordnung: Wie gross, wie schnell oder wie neu ist das
Auto, das Mann/Frau fährt, steht das Einfamilienhaus schon, wie ist es um den beruflichen
Erfolg bestellt und dergleichen mehr. Für wache Augen liefern solche äusserlichen
Merkpunkte jedoch kein Material, das darüber Auskunft geben würde, wie der Stand der
persönlichen Entwicklung tatsächlich ist.
Bei allem Gerede über die Wirkung von Karate, dass Karate ein Teil des Lebens sei und
daher in den Alltag zu integrieren sei, entstehen auch einige Missverständnisse. Oft wird das
Ausüben von BUDO-Künsten als exklusive Angelegenheit einiger Auserwählter verstanden.
Deshalb überrascht es kaum, dass in der Kampfkunst leider manchmal die gleichen
archaischen Männlichkeitsrituale gepflegt werden, wie andernorts mit Statussymbolen.
Die Ritual-Falle
Kein Wunder finden heutzutage gesellschaftliche oder politische Anlässe oft nicht wegen
eines Inhaltes, sondern um der Huldigung eines Rituals willen statt: In Ermangelung echter
Substanz wird das Ritual selbst zum Inhalt.
Philosophen wie Paul Virilio, Günther Anders und Jean Baudrillard sind den Gründen für das
Fehlen von Werten nachgegangen. Als Ursache für die Sinnentleerung machen sie die durch
Globalisierung und Technisierung des Alltags um sich greifende Entgrenzung verantwortlich:
es gibt keine allgemeingültigen Werte mehr. Virilio geht in seiner Kritik so weit, dass er die
Grenzen von Raum und Zeit aufgehoben sieht. Als einzig realen Ort in einer gänzlich virtuell
gewordenen Gesellschaft macht er die 20:00 Uhr Nachrichten aus.
Umso verzweifelter wird vermutlich der in Abwesenheit geratene Sinn durch äusserliche
Formen ersetzt. Grenzen können so zwar gesetzt werden. Sind sie nicht mit Inhalt und Sinn
gefüllt, bleiben sie Ritual um des Rituals willen.
Auch im Dojo, dem üblichen Übungsort der Kampfkunst, kommen Rituale vor. Sie bilden
jedoch nicht den Inhalt, sondern säumen den Weg dazu. Wer sich in der Budo-Szene jedoch
umsieht, trifft auf die manchmal bizarrsten Verirrungen. Rituale werden vollzogen im Habitus
der Japaner, deren Manierismen als Inhalt missverstanden. Wer Augen im Kopf hat sieht:
Asiaten im Allgemeinen und Japaner im Speziellen haben einen anderen Körperbau als wir,
ein anderes Verhältnis zu Körperlichkeit und andere tradierte Normen. Wohl können und
sollen wir von ihnen lernen – sie gedankenlos zu imitieren wäre nicht nur falsch sondern
geradezu fatal – wir verkämen zu Papageien. Ausserdem würden wir unseren Körpern und
Seelen Dinge zumuten, auf die sie entweder nicht vorbereit sind oder für die sie sich
grundsätzlich nicht eignen.
Raucht der Meister Pfeife, tun das die Schüler auch. Trägt er einen langen Mantel, löst das
bei den Adepten einen neuen Modetrend aus. Zupft er sich vor dem Kumite den Ärmel des
Gi auf eine bestimmte Art zurecht, findet das Nachahmung. Wir merken: Schüler machen
nicht unbedingt das, was man ihnen vordoziert, sondern das, was man ihnen vorlebt.
Diese Einsicht schmälert den Wert von Ritualen keineswegs, im Gegenteil:
verantwortungsvoll eingesetzt schaffen sie eine spezifische Atmosphäre, sind Versatzstücke
der Raum- und Zeit-gestaltung aber – und das kann nicht genug betont werden – sie sind
per se keine Inhalte. Die Rituale im Dojo sind Teil der Methodik, mit welcher der Inhalt
Kampfkunst gelehrt werden kann.
Die Exoten- und Traditionsfalle
Ein unvollständiger Rückblick: Über die Herkunft des Karate existieren zahlreiche Legenden –
unbestritten sind jedoch die Spuren, die zu den Shaolin führen. Japanische Meister haben
sich auf dem chinesischen Festland Inspiration geholt und die Technik nach ihren
Wertvorstellungen perfektioniert und systematisiert. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts wurde
Karate in den Militärakademien der japanischen Insel Okinawa unterrichtet. Das erklärt auch
die ritualisierte und hierarchisierte Unterrichtsform. Meiner Ansicht nach liefert dieses Gerüst
gute didaktische und methodische Möglichkeiten – aber auch hier gilt es Form und Inhalt zu
unterscheiden. Übende in einer oder zwei Reihen aufzustellen ermöglicht eine effiziente
Arbeitsweise, weil so auf einen Blick eine gute optische (Selbst!-) Kontrolle möglich ist.
Es gilt auch hier, nicht gedankenlos Vorgaben zu übernehmen, die aus einem uns fremden
Kontext stammen. Im Übertreibungsfall verhindert fortgesetzter Frontalunterricht echten
Fortschritt bei den Ausübenden, wenn diese vornehmlich auf Kommando arbeiten müssen.
Es gibt zahlreiche Lerninhalte, die zu zweit oder in Gruppen ebenso sinnvoll erarbeitet
werden können. Hilfreich ist es, während des Unterrichts die Sozialform ab und an gezielt zu
verändern.
Das Gradierungssystem – das im Übrigen in dieser Form in Japan nicht existiert -
gewährleistet eine praktische Zuordnung der Lerninhalte. Zuerst werden die wichtigsten
Grundtechniken, einfache Verteidigungs- und Angriffstechniken sowie die grundlegendsten
Stellungen erarbeitet. Besteht einmal dieses technische Fundament können darauf
komplexere Bewegungsabläufe aufgebaut werden. Geübt werden alle diese Formen gemäss
der entsprechenden Gradierung.
Vergleichen liesse sich diese Struktur mit den Prinzipien des Spiralcurriculums und den
Gesamt-schulen, die in der Schweiz leider nur noch in ländlichen Gebieten anzutreffen sind.
Die Anwesenheit unterschiedlichster Entwicklungsstufen führt den Neueinsteigenden und
den Fortgeschrittenen bildhaft vor, welches ihre nächste Etappe ist. Ich betone: all dies sind
Mittel.
Die klare Ordnung übt eine breite Faszination aus, weshalb Dojos hin und wieder
Schauplätze offensichtlicher Macht- und Selbstdarstellungsgelüste werden. Schliesslich muss
ja der Beste sein, wer zu oberst ist. Ein fataler Trugschluss, es gibt leider auch schlechte
Lehrer, die die Position, die sie innehaben, vor allem dadurch erreicht haben, dass sie sie
ausgesessen haben. Auch wenn die Selbstregulation manchmal etwas dauert – es soll
vorkommen, dass solche Exemplare plötzlich ohne Schüler dastehen. Das ist der bessere
Fall, der schlechtere sieht so aus: es scharen sich Schüler um den Lehrer, die den gleichen
Komplex haben.
Eine gewisse Anziehung hat auch die spezifische Bekleidung. Es ist leichthin zu beobachten,
dass NeueinsteigerInnen bald vom konventionellen Trainingsanzug zum traditionellen Gi
wechseln wollen. Die Gruppendynamik mag eine Rolle spielen: man möchte dazugehören,
nicht auffallen. Bekleidung und ritualisierte Trainingsform erwecken vielleicht einen
exotischen Eindruck.
Wer Karate über längere Zeit übt, merkt jedoch: ich habe es nicht mit etwas Fremdem,
sondern in erster Linie mit mir selbst, meinen eigenen Stärken und meinen eigenen
Schwächen zu tun. Ganz sicher aber komme ich in Berührung mit Seiten in mir, die mir
bisher vielleicht eher fremd waren.
Das Dojo als Arena
Wie alle BUDO-Künste setzt sich Karate auch mit der Frage der Gewalt auseinander. Wie
nicht anders zu erwarten, tauchen hier gelegentlich Missverständnisse auf. Karate – und aus
meiner Sicht speziell der Shotokaï-Stil – öffnet den Zugang zu Energien. Und hoffentlich
auch zu Bewusstsein. Die Tatsache, dass man einen Menschen mit einem Schlag
niederstrecken oder gar töten kann, ist weder besonders neu, noch originell. Ich gebe
jedoch die Hoffnung nicht auf, dass wir uns seit der Steinzeit vielleicht doch etwas entwickelt
haben könnten. Das Wissen um diese Macht soll deshalb ausschliesslich dem Wachstum des
Verantwortungsbewusstseins dienen.
Der so genannte Sniper-Fall, der sich 2002 in den USA zugetragen hat, weist auf das
entsprechende Spannungsfeld hin . Während Wochen hat ein Mann mit seinem Stiefsohn
Menschen in willkürlicher Folge niedergeschossen. Der Serienkiller hatte vorher eine Zeit
lang eine Karateschule betrieben. Budo hat unter anderem auch eine Anziehungskraft auf
Menschen, die eine Auseinandersetzung mit Macht suchen. Daran ist nichts Schlechtes zu
sehen. Fällt dies wie im vorliegenden Fall mit psychischen Defekten, mit unverdauten
Militäreinsätzen und einer in vielen Teilen gescheiterten Existenz zusammen, stehen die
Zeichen auf Sturm. Nebenbei bemerkt ist dieses Drama als medienethischer Sündenfall zu
bezeichnen. Während die Bevölkerung dieser Region durch die Mordserie in Atem gehalten
wurde, fanden im gleichen Zeitraum über zwanzig, von der Öffentlichkeit kaum zu Kenntnis
genommene, Tötungsdelikte statt. Der Fokus auf diesen Fall war willkommen, die Behörden
konnten so von den tatsächlichen gesellschaftspolitischen Problemen ablenken.
Wie wir leichthin beobachten können, ist das Thema der Gewalt auch in den Gesellschaften
Mitteleuropas hochaktuell. Die Jugendaufstände von 2005 in den Vorstädten Frankreichs
dürften hier nur die Spitze eines bedenklich hohen Eisbergs darstellen.
Die Budokünste können diese Probleme nicht lösen. Aber sie haben ein Angebot, das es
näher zu betrachten Wert ist. Hier nimmt nun tatsächlich die Form und eine gewisse Disziplin
eine Schlüsselstellung ein. Beim Kumite treten sich in einer ritualisierten Form die Übenden
im Kampf gegenüber, sie sind gehalten einander zu fordern, auf dass Beide Angriffs- und
Verteidigungstechniken in möglichst realitätsnaher und dennoch kontrollierter Weise erfahren
und lernen können. Kriegt gleichwohl jemand etwas ab, so ist der Schaden bei richtiger
Konzentration in der Regel gering. All dies spielt sich nach klaren Regeln ab: Karate beginnt
und endet mit Höflichkeit.
Von den Schichten des Menschseins oder:
Nicht den Estrich tapezieren, wenn der Keller aufgeräumt werden müsste
Was sich auch in anderem Zusammenhang gezeigt hat, dürfte auch für das Karate gelten:
Auf Probleme muss am Ort ihres Auftretens eingegangen werden. Physische Probleme
gehören in die Hand des Mediziners, psychische in die der Seelenkundigen.
Aggression ist eine dem Menschen innewohnende Eigenschaft, ich bezweifle deshalb, dass
sie sich ohne weiteres sublimieren oder gar transzendieren liesse. Im Gegenteil – ich halte
derlei Praktiken für gefährlich, weil sie das vorhandene Potenzial nicht nur nicht nutzen,
sondern in bedenklicher Weise verdrängen. Das Dojo ist demnach ein Ort, wo in geordneten
Bahnen ein Umgang mit diesem Gebiet – und selbstverständlich einer ganzen Reihe weiterer
Themen – gesucht wird. Dank der wegweisenden Arbeit von Meistern wie Gichin Funakoshi
und Shigeru Egami legt der Shotokaï-Stil sein Schwergewicht auf die Persönlichkeits- und
Charakterbildung und erteilt dem Wettbewerbsgedanken eine Absage. Wer besessen ist von
der Vorstellung, andere zu beherrschen oder besiegen, kann im Innersten nicht frei sein für
das Handeln aus dem Leersein, wie es der BUDO-Kodex lehrt. Das Ziel ist also, sich bewusst
zu werden, dass Aggressionen auftauchen können, dass man die Mechanismen durchschaut
und damit auftretende Aggressionen besser steuern kann.
Sprechen wir von Gefühlen, so beziehen wir uns indes nur auf eine „Schicht“ eines
bestimmten Modells, das nachfolgend angesprochen werden soll.
Das Schicht-Modell
Modelle sind Reduktionen und erfassen die Wirklichkeit nur in verkürzter Weise, das ist
soweit klar, aber es kann dennoch vorausgesetzt werden, dass Modelle den Zugang zu
Vorgängen erleichtern können, die mit Worten ohnehin nur schwer zu erfassen sind. Das
Schicht-Modell macht einen Blick auf Welt und Wirklichkeit in dem die verschiedenen
Daseinsformen in Schichten gegliedert werden:
Westliches Modell
Östliches Modell
Schichten
Energiezentren/Chakren
Noetische Schicht
Spirituelle Ebene
Eidetische Schicht
Geistige Ebene
Thymotische Schicht
Sprache/Ausdruck
Rationale Schicht
Gefühl
Faunale Schicht
Selbstvertrauen
Vegetative Schicht
Dualität
Materielle Schicht
Verwurzelung
Zum Verständnis dieser Modelle ist zu sagen, dass die Schichten nicht scharf gegeneinander
abgegrenzte Zonen sind, sondern ineinander greifende Realitäten, die wechselseitig
aufeinander einwirken. Die Entsprechung der Modelle ist nicht restlos – im Modell West ist
eher die Rede von einer Betrachtungsweise der “ganzen Welt“, während beim Modell Ost der
Blick vom Inneren des Menschen ausgeht.
Als Beispiel aus dem Unterricht: Ganz im Sinne der japanischen Methoden wird in vielen
Schulen der Körper diszipliniert, wenn nicht gezüchtigt. Die Wirkung auf die Gefühlsschicht
(in den beiden Modellen in der Tabelle um je einen Platz verschoben) bleibt nicht aus. Es
werden eine Menge Dinge verdrängt, die sich dem aufmerksamen Beobachter aber auf der
materiellen Ebene – dem Körper – nicht verbergen können. Bemerkbar machen können sich
solche Dinge in Verkrampfungen, hochgezogenen Schulter usw.
Dauerhafte gesundheitliche Störungen lassen sich nach dieser Anschauung ebenfalls
einordnen. Werden tiefer gehenden Impulse „geankert“ – durch Wiederholung etwa – und
nicht wieder aufgelöst, resultiert daraus ein Trauma. Das heisst die Signale kreisen zwischen
den verschiedenen Ebenen als Endlosschlaufe (loop) und treten als Allergie, als Tick oder als
Krankheit an die Oberfläche des Körpers.
Wir sollten nicht vergessen, dass in Japan das Hochhalten der Sippen- oder Clanehre auch
merkwürdige Blüten treibt. Die Annahme wonach die Scham das bestimmende Gefühl dieser
Gesellschaft ist, scheint berechtigt. Um der Scham willen werden deshalb Gefühlsregungen
gezielt unterdrückt. Das heisst nicht, dass wir dies zu übernehmen hätten.
Im Westen scheint übrigens das bestimmende Gefühl die Schuld zu sein. Die falschen
Auslegungen unseres christlichen Erbes zwingen uns offenbar sofort danach Ausschau zu
halten, wer denn an einem bestimmten Umstand Schuld trägt.
Ein gesamtheitlich angelegter Unterricht nimmt sich dieser Thematik intuitiv an. Ein
erfahrener Lehrer wird auch nicht unbesehen die zum Teil recht militaristisch bis diktatorisch
anmutenden japanischen Methoden übernehmen, sondern mit im Westen erprobten und
verstandenen pädagogischen Ansätzen arbeiten. Und ganz besonders wichtig: der
verantwortungsvolle Lehrer kennt die psychologische Spielanlage der Lehrerposition, weiss
um die Überhöhung, die der unterrichtenden Person zukommen kann, weil Schüler und
Lehrer in einer Beziehung zueinander stehen, die für allerlei Projektionen herhalten kann.
Diese Projektionen können sich von der Realität der beteiligten Personen sehr weit weg
entfernen. Der erfahrene Lehrer weiss, dass die Situation im Dojo ihn mit einer
Machtposition in Zusammenhang bringt, die es mit hoher Bewusstheit zu füllen gilt. Er
erkennt, dass ihm in dieser Rolle Dinge zugeschrieben werden, die er unter Umständen
weder erfüllen kann, noch will.
Der erfahrene Lehrer wird auch merken, dass es ausgesprochen unterschiedliche
Lernzugänge gibt, und seine Schüler entsprechend unterrichten. 70% von dem was wir
lernen, nehmen wir über die Augen auf. Dinge vorzuzeigen kann demnach für viele eine
nützliche Methode sein. Aber eben nicht für alle. Es gibt eine nicht unbedeutende Anzahl
Menschen, denen es schon einige Mühe macht, z.B. den linken Arm und das rechte Bein
gleichzeitig zu bewegen. Überraschenderweise lernen sie dies leichter, wenn die Merkpunkte
auf verbale Art vermittelt werden. 20% von dem, was wir lernen, erfahren wir über die
Ohren.
Wo die Form zum Inhalt wird
Was also tun, worauf achten? Eine Frage, deren Antwort auf den ersten Blick nicht
besonders attraktiv ausfällt. Denn wer den Weg beschreiten will, so lehren die Alten, braucht
Geduld, Ausdauer – und die Bereitschaft, sich mit der eigenen Unvollkommenheit
auseinanderzusetzen. Im Zeitalter der Wellenreiter ist das kaum eine Verheissung. Denn hier
kommt nur weiter, wer oben bleibt, dauerhaft und ohne nass zu werden. Mit der Kunst des
Karate verhält es sich aber anders. Man spricht von der Arbeit an Schwächen und davon,
dass dort der grösste Gewinn zu verzeichnen sei: Hier wird die Fahrt ins tosende Wellental
unausweichlich.
Viele MusikerInnen richten ihr Üben schwergewichtig nach ihren Defiziten aus. Da ist diese
eine Stelle, mit einem schwierigen Lauf, einem heiklen Akkord oder Übergang, die wird
geübt, bis sie sitzt. Erst dann – und erst dann – wird das Stück als Ganzes gespielt und das
Geübte integriert. Im Französischen heisst es «par coeur», im Englischen «to know by
heart» für Auswendiglernen. Es heisst nicht «by brain». Die Verinnerlichung wendet sich
offenbar noch an eine andere Instanz als an die blosse Ratio. Da ist denn auch der feine
kleine Unterschied auszumachen: Zwar kann praktisch jede/r in recht kurzer Zeit den Ablauf
einer Kata lernen. Mehr als das geometrische Gerüst ist dann meistens nicht vorhanden.
Noch fehlt das Verständnis für die innere Form, für geistige Aspekte: Imagination, Atem und
Konzentration und nicht zuletzt persönliche Präsenz.
Kata – Form der Formen
Wer sich längere Zeit mit Karate auseinandersetzt, wird sich folglich früher oder später der
Faszination von Katas nicht entziehen können. Das kommt nicht von ungefähr. Katas sind
kleine Universen, die die Summe und Auswertung spezifischer Kampfkunst-Erfahrungen
darstellen. Wer tiefer hinter den Phänomenen der Form schürft, stösst auf Erstaunliches: Die
Katas erweisen sich als Kondensate einer Vielfalt von Kampfkunsttechniken. Dabei geben sie
durch ihren Rhythmus und Stil Informationen weiter über Philosophie und Haltung des
Urhebers. In diesem Fundus finden sich daher gleichsam die Anleitungen zu mannigfaltigen
Anwendungs-formen die im Zweikampf umgesetzt werden können. Dabei ist an einzelnen
Stellen auszu-machen, ob die eine oder andere Form tatsächlich taugt, oder ob sie eventuell
zu barock und ausgeschmückt ist, um wirklich praktisch funktionieren zu können. Dies muss
ganz handfest ausprobiert werden. Anleitung dazu gibt das entsprechende Bunkai , das in
der Umsetzung graduell bis hin zur kampforientierten Ausübung interpretiert werden kann.
Das Üben in diesem Sinn wird unmittelbar in die Qualität der Katapräsentationen
zurückfliessen, da die Bewegungen nun nicht länger blosse Gesten sind, sondern einem
konkreten Erfahrungshintergrund entsprechen.
Im Laufe der Zeit wurden bekanntlich ja auch Anpassungen an diesen Auslegeformen der
Katas vorgenommen. Dabei sind der rigiden Auffassung und dem Hang zu Perfektion und
Vereinfachung einzelner okinawischer Meister auch einige komplexere Bewegungen zum
Opfer gefallen. Deshalb macht es durchaus auch Sinn ältere Formen zu studieren und ihren
Werdegang zu kennen. Als Beispiele mögen Wanshu als Grundlage für die auch im Shotokai
geübte Empi, Rohai für Meikyo oder Chatanyra Kusanku für Kanku Dai und Kanku Sho
dienen. In beiden Fällen zeigen sich deutliche Spuren der chinesischen Wurzeln der
Kampfkunst.
Katas und Energiemuster
Ein ganz spezielle Beachtung verdient der Umstand, dass das Üben von Katas auf den
Energiehaushalt einwirkt. Wie das ganz genau funktioniert wurde meines Erachtens noch zu
wenig erforscht. Das Erklärungsmuster auf der Fitnessschiene scheint mir unzureichend zu
sein, die ausschliessliche Debatte über Adrenalin, Endorphine oder der neurologische Zugang
über Synapsen und Neuronen zu mechanistisch.
Gegen diese Thesen spricht alleine ihre linear-monokausale Anlage. So verlockend es wäre,
das menschliche Verhalten mit zwei, drei Sätzen zu erklären, so unzureichend wäre es
gleichzeitig. Weiter ist der Umstand zu nennen, dass das, was das Üben von Katas auslöst,
von Kata zu Kata und von Praktizierenden zu Praktizierenden unterschiedlich erlebt wird.
Allgemeiner Konsens ist: es tut gut, was als Einstieg ein durchaus ausreichender Ansatz ist.
Erschöpfend besprechen lässt sich das bücherfüllende Phänomen an dieser Stelle nicht.
Immerhin seien hier einige erfolgsversprechende Pisten aufgezeigt: Die Schulen Yoga, Chi
Gong, Thai Chi oder Shiatsu und der Umgang mit Meridianen liefern objektivierbare
Resultate, die zu studieren sich für Kampfkünstler lohnt.
Das Studium der Lenkung der vitalen Energie (Ki) und die Kenntnis der gesundheitlichen
Wirkungen (dao und Di-an-xue) wurden traditionellerweise als ebenso bedeutend
angesehen, wie das technische Verständnis der Form (Kata-Kumite).
Muskeln im Hirn – Hirn in den Muskeln
Gleichwohl hat natürlich auch die westliche Wissenschaft nützliche Hinweise, was die
Wirkung betrifft, sie seien an dieser Stelle nicht verschwiegen. Im Gespräch mit einem
Hirnforscher bin ich auf eine bemerkenswerte Tatsache gestossen: Die Wissenschaft hat
schon einige Zeit davon Kenntnis, dass Hirngrösse und Hirngewicht keine Auskunft über
geistige Leistungsfähigkeit geben. Einstein lässt grüssen: gerade mal 900 Gramm brachten
dessen graue Zellen postmortem auf die Waage - beim homo sapiens liegt das
Durchschnittsgewicht bei ca. 1400 Gramm. Eine Schlüsselstellung für die Effizienz des Hirns
nimmt gemäss Ansicht des Neurologen jedoch nicht die Masse, sondern der Vernetzungsgrad
der Zellen ein. Hirnzellen spielen erst im Verbund ihre maximale Leistung aus. Wie dieses
Zusammenspiel gefördert werden kann, fragt man sich und den Wissenschafter.
«Auswendiglernen», vernimmt man kurz und knapp, und zwar «möglichst im Kindesalter, wo
sich die vielen Hirnfunktionen heranbilden und ausdifferenzieren». Und wie nun Hänschen
für seine Hanswerdung an der Monotonie des Übens nicht vorbeikommt, so geht es auch
dem oder der Karateka. Unzählige Male muss eine Bewegung geübt werden, bis sie dem
Gedächtnis des Körpers selbstverständlich ist.
Dabei geht es indes um weit mehr als das blinde Auswendiglernen. Man stelle sich ein
tanzendes Paar vor, das ohne jegliches Geräusch oder jeglichen Ton Schritte und
Bewegungen übt - eine hölzerne Darbietung... Erst wenn die Bewegung im Einklang mit der
Musik wie von selber geschieht, bildet sie das Gefäss für die eigentliche Ausführung, erst da
entsteht der Raum für das Wesentliche: dem geglückten Einbezug von Imagination,
Darstellungsvermögen, Ausdruck – die Einmaligkeit des Augenblickes. Das ist erst möglich,
wenn der Kopf nicht mehr über Bewegungsabläufe nachdenken muss, sondern spontan und
selbstverständlich erfolgen.
Nicht spielen – sein
«Don’t act!» sagte Antony Hopkins, als er nach dem Geheimnis seiner Schauspielkunst
befragt wurde. Hopkins sagt von sich, dass er als Kind kaum einen zusammenhängenden
Satz sprechen konnte und über eine sehr mangelhafte Schulbildung verfüge. Auf den ersten
Blick scheint sich die Aussage des Hirnforschers zu relativieren. «Ich lese einen Script
unzählige Male, bevor ein Stück geprobt wird.» gibt Hopkins dann aber zum
schauspielerischen Handwerk Auskunft. Frucht dieser Verinnerlichung ist eine
Darstellungskraft, die nichts mit dem blossen Hersagen von Wörtern zu tun hat. Mit «Don’t
act!» spielt Hopkins auf eine der Grunderfahrungen der Schauspielkunst an. Zur
Projektionsfläche von Gefühlen und Gedanken werden DarstellerInnen dadurch, dass sie
nicht mehr spielen, nicht Trauer, Wut oder Freude mimen, nicht Jeanne D’Arc kopieren,
Quasimodo nachmachen. Das Geheimnis dieser Kunst liegt in der Fähigkeit, sich dem
Vorhandenen zu öffnen, Kanal zu sein für Archetypen. Dann sind sie der «Rainman», lassen
das Unfassbare des Autismus durch ihre Präsenz hindurchschimmern, dann sind sie die
Schwester, die Susan Sarandon in «Dead Man Walking» darstellt und begleiten den zum
Tode verurteilten auf seinem Weg zur Erkenntnis und Hinrichtung. Gefahrlos ist dieser Weg
«auf Messers Schneide» jedoch nicht. Es gibt nicht wenige Künstlerinnen, die von sich
sagen, sie seien in der Lage jede erdenkliche Rolle zu beherrschen und die sich dann fragen
«Und wer bin ich selber?». In einer «leidenschaftslosen Leidenschaft» gilt es die Balance
zwischen Hingabe und Zentriertsein zu halten – das gilt auch in der Kampfkunst.
«pas de gestes»
Voraussetzung dass sich dieser Zustand, dieses Momentum einstellen kann, ist, dass nach
langem Üben das eigene Dazutun wegbleibt. Die guten SchauspielerInnen fügen nichts mehr
hinzu, sie lassen unnützen Ballast weg. Sie denken sich nicht Verzierungen aus, die bloss das
Aufscheinen des Wesenskerns bedecken. Wie in der bildenden Kunst gilt auch hier – wie
bereits im Kapitel zur Kata angedeutet - die Kunst des Weglassens. «Pas de gestes»: Lass
das Gestikulieren, suche die Bewegung, die Aktion in ihrer reinen, unverhüllten Form. Eine
Umschreibung dieser reinen Form liefern auch die Shintaido-Meister Aoki und Ito. Mudras
(im asiatischen Raum: präzise definierte rituelle Haltungen vornehmlich der Hände) liefern
die Vorlage: «Stelle dir vor, dein ganzer Körper ist ein Mudra». Denn dahin gilt es zu
gelangen. Ein «gedan-barai» oder «oi-tsuki» ist nicht eine Bewegung der Hände oder
bestenfalls Arme sondern ein präzise choreographiertes Kontinuum des ganzen Körpers in
Harmonie mit Atmung und mentaler Einstellung.
Der Faktor Zeit
Was alle Künste, die mit Do oder Zen näher oder entfernter zu tun haben, im Schilde führen
ist dies: Die Einmaligkeit und Unplanbarkeit des Augenblicks bewusst machen. So wird die
Form, was sie ist, eine Hülle, in der Erfahrungen erzeugt, vermittelt und gesammelt werden
können. Über den Unterschied zwischen Kampfkunst und Kampfsport ist schon des Öfteren
debattiert worden. Die Gefahr, dass sich die Kampfkunst erhaben über den Kampfsport
geben möchte, darf dabei nicht verkannt werden. Und es kann ja nicht darum gehen, den
einen Götzen vom Sockel zu reissen, um flugs den nächsten empor zu hieven. Es gibt für
beide Sichtweisen eine Berechtigung, und damit auch unterschiedliche Prioritäten.
Während der Kampfsport als Zielvorgabe oft den Wettbewerb und damit den Vergleich mit
anderen anstrebt, habe ich als Kampfkunstverpflichteter mich selber als Gegenüber. Welches
sind meine Grenzen? Und: Wie kann ich über sie hinausgehen? Mit wem soll ich mich
messen? Mit jemandem, der 30 Zentimeter grösser, oder mit jemandem, der 20 Kilo leichter
ist? Der Karate-do Adept sucht Befreiung, der Kampfsportler den Sieg. Die Kampfkunst
verschreibt sich der Auseinandersetzung mit der Gegenwart, Kampfsport versucht die
Zukunft zu planen. Die Synthese: der Karateka setzt sich mit dem Kampfeswillen, der
Ausdauer und den athletischen Fähigkeiten des Karatesportlers an die Arbeit und integriert
essenzielle weitere Aspekte: Die Stille, das Handeln aus dem Leersein, den Umgang mit Ki,
mentale Arbeit, die Auseinander-setzung mit der eigenen und mit der fremden Aggression.
Verschreibe ich mich dem SEIN, oder reagiere ich bloss?
Entscheidend für die Authentizität jeglichen Agierens im Sinne des DO ist das «Leersein» -
jede andere Haltung wurzelt im Denken. Und Denken ist Erinnern, Vergleichen mit Erlebtem
und tendiert zu Reaktion und Reproduktion. Im steten Wandel des Lebens mag es Affinitäten
geben – reine Wiederholungen gibt es nicht.
Eine entsprechende Haltung in der Meditation kann das Vorhaben des «Leerseins» unter-
stützen. Meditation hat genau genommen keinen anderen Sinn, kein anderes Ziel. Es gibt in
der Meditation nichts zu erreichen: ausser vielleicht die Erkenntnis, dass die Leere nicht leer
ist und dass in der Stille und im Nicht-abgelenkt-sein grosse Kraft und Gleichmut gewonnen
werden können.
Die westlichen Erfahrungen in diesem Bereich sind leider oft an falsch verstandene Demuts-
vorstellungen gebunden. Diese Unterwürfigkeit kam Kirchenoberen und weltlichen Führern in
Europa während Jahrhunderten gelegen. Wenn es selbstverständlich war sich Gott zu unter-
werfen, dann auch den mit Gottähnlichkeit liebäugelnden Herrschern. Diese taten deshalb
alles, dass eigenständige Meditation keine weit verbreitete Praxis war. Wo kämen wir da hin,
wenn plötzlich jeder alleine Zugang zu seinem Urquell finden würde? In den Kampfkünsten
existiert ein wichtiger Zugang zu Meditation: Sammlung und Konzentration vertiefen das Ver-
ständnis dessen, was im Dojo in der praktischen Aktion umgesetzt wird. Meditation heisst,
sich seiner Möglichkeiten und Wirkungen bewusst zu sein oder werden. Der einzige Zeit-
punkt, in dem ich in mein Schicksal in mein Leben eingreifen kann, ist das JETZT. Das Uni-
versum käme zum Stillstand, wenn wir alle nur willfährige Marionetten wären. «Mitwirkende
gesucht!» könnte das Motto heissen. Wir sind MitschöpferInnen im Lebenstheater und
tragen entsprechende Verantwortung - gerade auch bei der Wahl unserer Vorbilder.
Mich erstaunt, dass gelegentlich der Einwand erhoben wird, Zen hätte nichts mit Kampfkunst
zu tun. Ich spare mir an dieser Stelle eine historische Auslegung und gehe ausschliesslich
von praktischen Erfahrungen aus, die in allen Schulen der geistigen Entwicklung zu finden
sind.
Die Hinwendung zur Meditation oder Stille oder in gewissen Schulen zur Ekstase bewirkt
vergleichbare Erfahrungen. Sie münden im Einssein mit dem Geschehen, die Subjekt-Objekt-
Spaltung verliert ihre Schärfe. Erst wenn das Ego weicht, entsteht Raum für „das Andere“.
Dies ist die Voraussetzung, um den Kampf leidenschaftslos austragen zu können, adäquat zu
reagieren oder in Vollendung zu antizipieren. Eine edlere Aufgabe als dies in der Kampfkunst
umzusetzen, kann ich nicht erkennen.
Prüfe dich selbst und deine Lehrer - ein Kürzestlehrgang
Zum Lernen braucht es zweierlei: SchülerInnen und LehrerInnen. Merke: wenn du dich in
deiner Haut nicht wohl fühlst, muss es nicht unbedingt an dir liegen.
•
Frage dich nach deiner Motivation – und nach der deiner Vorbilder.
•
Willst Du wissen wie es um den Charakter einer Person bestellt ist, dann empfiehlt
es sich auf deren Hände zu schauen und nicht auf deren Mund. Will heissen:
wichtiger als was jemand erzählt, predigt, versichert oder verspricht ist, was die
betreffende Person vorlebt.
•
Betrachte deine letzte Trainingseinheit unter folgendem Gesichtspunkt: Für wen
wurde das Training durchgeführt? Falls das Training nicht für die Schüler
durchgeführt wurde, kannst du gerade so gut auf den Karneval, ins Kino oder sonst
wohin gehen – und dabei erst noch mehr Spass haben.
•
Erhältst du Gelegenheit in den Bereichen deiner persönlichen Entwicklung gezielt zu
arbeiten oder bist du gehalten, Manierismen und Ticks zu üben, die dein Lehrer
womöglich gedankenlos von seinen Vorbildern übernommen hat?
•
Nimmst du in deiner Entwicklung Fortschritte wahr – wirst du in dieser
Wahrnehmung unterstützt?
•
Unterscheide zwischen fachlicher Autorität und struktureller Macht.
Die Wahl einer geeigneten Lehrperson darf nicht unterschätzt werden. Und schon gar nicht
die persönliche Affinität. Vergessen sollte man auch Folgendes nicht: aus traditioneller Sicht
war es gang und gäbe, dass man einige Jahre bei einem bestimmten Lehrer sein Handwerk
erlernte und dann weiter zog – nicht selten auf Aufforderung des Meisters, sich bestimmte
Eigenschaften anzueignen, oft mit dem Hinweis welcher Meister die entsprechende Lektion
für einen bereit hielt. Das Model Guru oder Sektenführer hat in jüngster Zeit wieder
verstärkt Konjunktur – ich zähle es zu den Auslaufmodellen, es sei denn, jemand stehe auf
Gehirnwäsche.
ANDREAS STAUFFER, 4. DAN SHOTOKAI EGAMIRYU
Literaturhinweise:
«Karate Do Kata for Professionals» Shigeru Egami
«The Heart Of Karate-Do» Shigeru Egami
« Shin Budo - Karate Do Shotokai Egamiryu» William Schneider
«The Razors Edge», W. Somerset Maugham
«One Taste» Ken Wilber
«Zen in der Kunst des Bogenschiessens», Eugen Herrigel
«The Last Barrier» Reshad Feild
«The Meditator’s Handbook» David Fontana